Menschen mit Behinderung benötigen in hohem und zunehmendem Maße neben sozialen und pädagogischen auch behandlungspflegerischen Leistungen. Dies hat mehrere Gründe:
- Menschen mit Behinderung haben ein höheres Risiko zu erkranken.
- Die durchschnittliche Lebenserwartung bei Menschen mit Behinderung steigt erfreulicherweise. Mit zunehmendem Lebensalter besteht aber auch eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass - zusätzlich zu der bestehenden Behinderung - akute oder chronische Krankheiten eintreten.
- Die Einführung der DRG-Pauschalen hat bewirkt, dass Krankenhausaufenthalte verkürzt werden und somit auch nach der Entlassung häufig noch ein erheblicher Bedarf an Behandlungspflege besteht. Ähnlich wirkt die zunehmende Verlagerung von medizinischen Eingriffen in den ambulanten Bereich (z.B. ambulante Operationen) oder in den teilstationären Bereich (z. B. Tagesklinik).
- In besonderen Wohnformen wohnen vermehrt auch Menschen mit neurologischen Erkrankungen (z. B. Multiple Sklerose), mit erworbenen Hirnschädigungen oder Restschädigungen nach Unfällen oder schweren medizinischen Eingriffen. Bei diesem Personenkreis besteht zumindest anfangs, oft aber auf Dauer ein hoher Pflegebedarf. Gleiches gilt für Menschen mit psychischen Erkrankungen oder Suchterkrankungen, bei denen als Folge der Sucht oder psychischen Erkrankung körperliche Beeinträchtigungen bestehen, die einer pflegerischen Versorgung bedürfen. Es stellt sich daher die Frage, wie die Durchführung von Behandlungspflege unter größtmöglicher Berücksichtigung der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung in besonderen Wohnformen bewerkstelligt werden kann.
Die Fachverbände für Menschen mit Behinderung - damals noch Kontaktgesprächsverbände - hatten zu dieser Thematik bereits im Jahr 2008 eine Leitlinie herausgegeben. Aufgrund der zwischenzeitlich ergangenen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) aus dem Jahr 2015 hat sich die zugrundeliegende Rechtslage aber in wesentlichen Punkten geändert:
Bis zu diesem Zeitpunkt waren Krankenkassen der Auffassung, dass Menschen mit Behinderung in einer stationären Einrichtung der Behindertenhilfe im Sinne des § 43 a Sozialgesetzbuch (SGB) XI keinen Anspruch auf die Durchführung von Behandlungspflege auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung haben. Der Anspruch sei bereits durch die in § 43 a SGB XI vorgesehene Leistung der Pflegeversicherung in Höhe von max. 266 € je pflegebedürftiger Person/Monat pauschal abgegolten. Somit sei die Einrichtung im Sinne des § 43 a SGB XI zur vollständigen Erbringung der Behandlungspflege verpflichtet, so die Argumentation.
Dieser Rechtsauffassung ist das BSG mit seinen Urteilen aus dem Jahr 2015 entgegengetreten und hat klargestellt, dass auch in Wohnkonstellationen, die dem § 43 a SGB XI unterfallen, ein Anspruch auf Behandlungspflege gegen die Krankenkasse gemäß § 37 Abs. 2 SGB V bestehen könne. Der Umfang des Anspruchs bemesse sich nach den Umständen des Einzelfalls. Umfasst seien in der Regel keine Maßnahmen der einfachsten Behandlungspflege (z. B. Medikamentengabe, Verbinden, Auftragen von Salben, Blutdruckmessung). Diese könnten auch von Laien ohne pflegefachliche Ausbildung durchgeführt werden und fielen damit in den Aufgabenbereich des Trägers der Wohnform im Sinne des § 43 a SGB XI. Darüber hinausgehende Behandlungspflege sei dagegen grundsätzlich von den Krankenkassen zu leisten.
Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung werden im Folgenden die auch weiterhin problematischen Fragestellungen der Behandlungspflege in besonderen Wohnformen im Sinne der §§ 43 a S. 3 i.V.m. 71 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI angesprochen und Lösungsmöglichkeiten vorgestellt. Es handelt sich dabei um Thesen, die den aktuellen Diskussionsstand der Fachverbände für Menschen mit Behinderung wiedergeben. Sie weichen in bestimmten Bereichen von der bisher ergangenen Rechtsprechung sowie von medizinisch/rechtlichen Einschätzungen in der Literatur ab. Insoweit soll das Papier als erste und noch vorläufige Grundlage für eine weiterführende Diskussion mit den beteiligten Leistungsträgern, Leistungserbringern (z.B. Träger von besonderen Wohnformen, Pflegedienste) und Leistungsberechtigten dienen, die hiermit aufgefordert sind, die Vorschläge zu prüfen und sich aktiv an der Diskussion zu beteiligen.
Das vollständige Papier können Sie sich unten herunterladen.