Am 19.10.2022 fand im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages die Anhörung zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes statt. Die Gesetzesänderung regelt in einem neuen § 5c das "Verfahren bei aufgrund einer übertragbaren Krankheit nicht ausreichend vorhandenen überlebenswichtigen intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten". Es geht also darum, wie in einer Pandemie eine eventuell notwendige Triage und damit die Zuteilung von knappen und nicht für alle Patienten ausreichenden intensivmedizinischen Leistungen auf einzelne Patienten durchzuführen ist. Mit dieser Gesetzesänderung versucht der Bundesgesetzgeber das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus Dezember 2021 zu diesem Sachverhalt umzusetzen.
Die geführte Diskussion im Gesundheitsausschuss macht betroffen!
Betroffen deshalb, weil Teile der Ärzteschaft (ärztliche Vertreter der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und der Bundesärztekammer sowie die Deutsche Krankenhausgesellschaft) offen forderten, dass eine begonnene Intensivbehandlung eines Patienten abgebrochen werden kann, wenn ein anderer Patient mit einer vorgeblich höheren Überlebenswahrscheinlichkeit diesen Intensivplatz benötigt (sog. Ex-Post-Triage).
Was heute noch als Totschlag gewertet würde, wäre dann nach dem Willen der Ärzteschaft legal und einzig dem Berufsethos der Ärzte unterworfen.
Die Forderung der Ärzte macht misstrauisch, weil Menschen mit Behinderung in der Corona- Pandemie schon erleben mussten, dass ihnen der Zutritt zum Krankenhaus verwehrt wurde, etwa weil eine Begleitperson wegen strenger Pandemieregeln nicht mit aufgenommen werden durfte, der Behandlungserfolg letztlich aber nur durch diese Begleitperson als Assistenz im Krankenhaus hätte abgesichert werden können, oder, damit sie - rein hypothetischen Annahmen folgend - nicht möglicherweise einen Intensivplatz zu Ungunsten anderer "gesünderer" Patienten (zu lange) belegen. Zudem gibt es genug Menschen mit Behinderung, deren Überlebenswahrscheinlichkeit von Ärzten in der Vergangenheit als sehr gering eingeschätzt wurde und die sich heute immer noch eines glücklichen und zufriedenen Lebens erfreuen.
Ärzte können irren und Menschen mit Behinderung mussten eben häufiger schon erfahren, dass Ärzte sich gerade bei ihnen geirrt haben. Diese Aussage unterstellt kein bewusstes Fehlverhalten sondern ist ein Fakt, der deutlich macht, warum die Ex-Post-Triage weiterhin verboten gehört und warum die Überlebenswahrscheinlichkeit kein geeignetes Entscheidungsinstrument im Falle einer Triage ist.
Doch es geht bei der Ex-Post-Triage nicht nur um die Menschen mit Behinderung. Betroffen wären auch alte Menschen und ggf. alle, auch junge, Menschen mit Vorerkrankungen. Sie alle müssten im Krankenhaus mit der Sorge leben, dass bei einer Triage ihre Intensivbehandlung zugunsten eines Patienten mit vermeintlich höherer Überlebenswahrscheinlichkeit abgebrochen wird.
Was aber macht das mit einer Gesellschaft, wenn im Notfall das Leben der Schwachen und Gebrechlichen zugunsten der vermeintlich "Fitten" geopfert werden kann? Welche Auswirkungen hat dies auf unser Zusammenleben?
Gnade uns Gott, mag man da diesen Schwachen und Gebrechlichen und ihren Angehörigen zurufen.
Die Forderung der Ärzteschaft steht im Widerspruch zum Gleichheitsgrundsatz in Artikel 3 unseres Grundgesetzes, sie zerstört das Vertrauen in die Medizin und in die Ärzteschaft und sie missachtet das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach Menschen mit Behinderung bei Zuteilungsentscheidungen im Fall knapper intensivmedizinischer Ressourcen wirksam vor Diskriminierung zu schützen sind.
Wir appellieren daher an den Bundesgesetzgeber, die Ex-Post-Triage bei der anstehenden Änderung des Infektionsschutzgesetzes weiterhin gesetzlich auszuschließen und Menschen mit Behinderung bei den Regelungen zur Triage wirksam vor Benachteiligung im deutschen Gesundheitswesen zu schützen. Das muss den Verzicht auf die Überlebenswahrscheinlichkeit als Kriterium für Triage-Entscheidungen einschließen.